Abschiedsvorlesung

Die folgende Vorlesung wurde nun schon zum zweitenmal abgesagt – der erste Termin war für An­fang Herbstsemester 2020 vorgesehen. Auf vielfältigen Wunsch, und weil ich sie nicht bis zum Sankt-Nimmerleinstag zurückhalten will, habe ich hier einen leicht ausführlicheren Text bereitgestellt, in dem als Ersatz für die dahingefallenen mündlichen Demonstrati­onen zahlreiche «Links» unterge­bracht sind. Die «normalen» im Text führen hinaus ins Internet, die Audio-Schaltflächen zu eingebauten kurzen Tondokumenten. Beide enthalten für das Verständnis wichtige Informationen. Die Fussnoten geben Zusatzhintergrund. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!

Rudolf Wachter, 14.12.2021

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Abschiedsvorlesung Universität Basel, vorgesehen am 9. Dezember 2021

«Orality» – Textrezitation in den klassischen indogermanischen Sprachen Sanskrit, Griechisch und Latein

Was die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft der indogermanischen Spra­chen üblicherweise macht, ist kurz gesagt dies: Sie erforscht und rekon­struiert die Geschichte und Vorgeschichte vieler Sprachen von Indien bis Island aufgrund der Erkenntnis, dass diese Sprachen miteinander verwandt sind, das heisst alle von einer gemeinsamen Grundsprache abstammen, die wir Urindo­germanisch nennen. Von dieser gibt es keine schriftlichen Zeug­nisse, ja es können kaum je welche existiert haben, denn zu ihrer Zeit – etwa 3000 v. Chr. – konnten die Menschen in den Gegen­den, wo sie gesprochen wurde, noch gar nicht schreiben. Doch können wir durch genauen Vergleich der späteren, be­zeugten Sprachen und unter Be­rücksichtigung vor allem des regelmässigen Lautwandels viele Wörter und Formen dieser indogermani­schen Grundsprache mit grosser Sicherheit rekonstruieren.

Die historisch-vergleichende Sprachwissenschaft interessiert sich nun aber nicht nur für die Sprache selbst, sondern auch für die Dinge des täglichen Lebens ihrer Spre­cher. Besonderes Interesse verdient dabei eine alte poetische Tradition, die in mehre­ren wichtigen Zweigen der indogermanischen Sprach­familie als voll ausgebildete, kraftvolle Literatur aus der schriftlosen Prähistorie in die Historie eintritt, weshalb man schon lange vermutet, dass diese poetische Tradition bis in die grundsprachliche Zeit zurückreicht.

In Europa beginnt die Literaturgeschichte bekanntlich um 700 v. Chr. bei den Griechen mit einem regelrechten Paukenschlag, nämlich den Gedichten von Homer und Hesiod. In dieselbe Sphäre gehört auch eine Gruppe von leicht jüngeren Hymnen an die Göt­ter. Was die Vorge­schichte dieser frühgriechischen Dichtung betrifft, wissen wir seit über 150 Jahren, dass jene Dichter bereits in einer langen Tradition gestanden sein müssen. Seit der Mitte des 19. Jahr­hunderts haben Indogermanisten nämlich auf dichtersprachliche Ausdrücke aufmerksam gemacht, die den Schluss erlauben, dass schon die Urindoger­manen eine Art Heldendichtung kannten. Das bekannteste Bei­spiel ist der Ausdruck «unvergänglicher Ruhm», der im Grie­chischen und Altindischen aus denselben beiden Wörtern zusammengesetzt ist, einem Sub­stantiv und einem sehr exquisiten Adjektiv. Auf griechisch lautet er κλέϝος ἄφθιτον, in vedischem Sans­krit śrávas ákṣitam.[1]

Die phonetischen Unterschiede sind durch die regulären Lautveränderungen in jeder der beiden Sprachen leicht erklärbar.

Von Homer, Hesiod und der ganzen weiteren vorchristlichen Literatur der Grie­chen und Römer wüssten wir heute nichts, wenn sie nicht aufgeschrieben wor­den wäre und wenigstens ein kleiner (aber lohnender) Teil davon auf dauerhaf­tem Pergament über das Ende der Antike hinüber erhalten geblieben und im Mittelalter trotz des heid­nischen Inhalts von Mönchen immer wieder abge­schrieben worden wäre.

In Indien ist die Lage anders als in Griechenland. Zwar ist die Devanāgarī-Schrift eben­falls schon etwa 1300 Jahre alt und ihre Vorstufen sind nochmals 1000 Jahre älter. Da­mit kommen wir aber noch längst nicht in die Zeit der ältesten Texte zurück. Viel wich­tiger war – und blieb – für die Erhaltung der frühen altindischen Literatur das Auswen­diglernen und Rezitie­ren, also die sogenannte mündliche Tradition, mit enormem Lernaufwand über Dutzende von Generationen hinweg bis heute. Die schriftliche Niederlegung der heiligen Texte war lange Zeit sogar verboten und ist teilweise bis heute verpönt; zudem waren die vorwiegend benutz­ten Schriftträger (Palmblätter und später auch Papier) im feucht-warmen indischen Klima ohnehin eine ziemlich unsichere Sache. Dank der ungebroche­nen religiösen und literarischen Tradition sind auf diese Weise hunderte Götter­hymnen und andere Gedichte in vedischem Sanskrit erhalten geblieben, die gut und gern 3000 Jahre alt sind, einige wohl noch etwas älter, sowie jüngere, gigan­tische Epen und viele andere Werke sowie eine erstaunliche gram­matische und philosophisch-exegetische Begleitliteratur. Dass sogar die älte­sten Texte dabei weitgehend intakt erhalten sind, kann streng wissenschaftlich nur die westliche Indogermani­stik mittels des historischen Sprachvergleichs nachweisen und hat das mit dankbarer Bewun­derung auch längst getan. Die Hindus stehen dem allerdings ambivalent gegenüber; sie er­wähnen die westliche Wissenschaft zwar im­mer wieder, sähen es aber lieber, wenn diese be­weisen würde, dass vor dem Vedi­schen nur noch die Weltschöpfung war.[2]

Um Ihnen einen kleinen Eindruck von dieser grossartigen Tradition zu geben, möchte ich Ihnen einen Hymnus aus dem Rigveda vorstellen, den allerkürzesten von über 1000 in dieser Sammlung. Er trägt im ersten Buch die Nummer 99, be­steht aus einer einzi­gen Strophe à 4 × 11 Silben, ist an den Feuergott Agni (= lat. igni-) mit Beinamen Jātá­vedas gerichtet und ist – gefolgt von einem jüngeren Textteil[3] – noch heute im hin­duistischen Alltag unter der Be­zeichnung «Durgā Sūktam» als Mittel zum Erfolg und gegen Angst und Mutlosigkeit sehr beliebt. Auf Youtube finden Sie davon gegen dreis­sig Aufnahmen, einige davon allerdings nicht ganz fehlerfrei.

Hier sehen Sie – nach den kleingedruckten Didaskalien – zuerst die Zahl 99 und dann den Text des Hymnus in der massgeblichen Ausgabe von Max Müller[4], Oxford 1877. Die sehr präzise Devanāgarī-Schrift transkribieren wir in ein durch Zusatzzeichen er­weitertes latei­nisches Alphabet. Der Hymnus lautet so:

jātávedase sunavāma sómam
arātīyató ní dahāti védaḥ /
sá naḥ parṣad áti durgā́ṇi víśvā
nāvéva síndhum duritā́ti agníḥ //

«Dem Jātávedas wollen wir Soma pressen!
Er möge des Feindseligen Besitz niederbrennen!
Er möge uns hinüberführen über alle Widerwärtigkeiten,
wie mit einem Schiff über den Fluss, über die Gefahren hinweg, der Agni!»

(Zur Aussprache ist vor allem zu sagen, dass e und o im Sanskrit immer Langvokale sind.)

Und etwa so klingt dies heute fast[5] überall in Indien: https://youtu.be/MN1o8b999mk.[6]

Ich habe diesen kleinen Hymnus in meinen Vedischkursen immer als erste Lektüre be­handelt. Fast jedes Wort hat seine Verwandten in unseren westlichen indogermani­schen Sprachen. Das würde hier zu weit führen. Wir werden auf den Hymnus heute aber trotzdem noch ein paar­mal zurückkommen.

In anderen indogermanischen Völkerschaften ist die Situation weit weniger erfreulich als in Griechenland und Indien: Bei den Römern und den anderen Italikern ist keine sol­che alte Dichtung erhalten geblieben; sie waren offenbar schon allzu lange im grie­chisch und semi­tisch geprägten Schriftkulturraum des Mittelmeers niedergelassen und konnten sich an tradi­tionelle Epen- und Hymnendichtung aus der Zeit ihrer Wan­derungen nicht mehr erinnern.

Was die Kelten betrifft, schreibt Gaius Julius Caesar[7], dass viele junge Gallier jahre­lang zu den Druiden in die Schule gingen und dabei lange poetische Texte auswendig lernen mussten. Leider galt es, wie Caesar weiter berichtet, bei den Galliern als Un­recht, diese Texte aufzu­schreiben. Auch über den Inhalt solcher frühkeltischer Dich­tung wissen wir nicht viel. Immer­hin sagt Sextus Pompeius Festus in seinem Lexikon, ein Barde sei auf gallisch ein Sänger, der Loblieder auf heldenhafte Männer singt[8]. Das dürften also Epen gewesen sein; daneben gab es – wie bei den Griechen und Indern – zweifellos auch Götterhymnen.

Ganz ähnliche Dichtung kennen wir viele Jahrhunderte später wieder etwas besser von den Germanen. Da sind in Skandinavien Teile der mündlichen Edda-Dichtung auf­geschrieben worden, auch hier Götter- und Heldenlieder, ebenso in England das Epos Beowulf und in Deutschland das Hildebrandslied und etwa gleichzeitig – aber mit christlicher Thematik – der Heliand, und schliesslich um 1200 das Nibelungenlied, Parzival usw. Das Hildebrandslied ist der altertümlich­ste derartige germanische Text; von ihm ist aber leider nur ein kurzes Frag­ment erhalten geblieben.

Besonders lange scheint sich eine solche mündliche Dichtungstradition schliesslich bei ge­wissen slavischen Stämmen erhalten zu haben, jedenfalls hat man bei serbi­schen Guslaren noch anfangs des 20. Jahrhunderts improvisieren­de Ependichtung in Langversen angetroffen. Dank dieser hat die Homerfor­schung erst richtig erkannt, dass eine derartige improvisierende Kompositions­technik auch für gewisse Eigenhei­ten des frühgriechischen Epos die weitaus beste Erklärung liefert. Man nennt die Technik heute «Oral poetry». Nachdem die Griechen im 8. Jh. v. Chr. die Alphabet­schrift eingeführt hatten, ist diese improvi­sierende Technik bei ihnen innert weniger Generationen in Vergessenheit geraten. Glücklicherweise sind dafür ein paar hervor­ragende in dieser Tradition stehende Werke gerade noch aufgeschrieben worden, eben die von Homer und Hesiod und die Hymnen.

Neben der Allgegenwart solcher epischer und hymnischer Dichtung bei den indoger­mani­schen Völkerschaften und vielen dichtersprachlichen Elementen wie dem «unver­gänglichen Ruhm» hat sich für den Nachweis prähistorischer indogermanischer Dich­tung noch ein ganz besonders stichhaltiges Element gefunden: Antoine Meillet hat 1930, eine Bemerkung Ernst Leumanns aufgrei­fend[9], ein prominentes Versmass bei Sappho und Alkaios, die etwa hundert Jahre nach Homer auf der Insel Lesbos wirkten, mit der Triṣṭubh, einem Versmass des Rig­veda, verglichen und nicht nur in der Zahl der Silben (es sind hier und dort genau 11), son­dern auch in der Abfolge der langen und kurzen Silben im Vers frappante Ähnlichkeiten fest­gestellt.[10] Beide Verse werden zudem in Stro­phenform verwendet.

Der sapphische Elfsilbler hat folgende Struktur:

– ⏑ – ⏓    – ⏑ ⏑   – ⏑ – ⏓

Hier als Beispiel die erste Strophe des berühmten Aphroditehymnus der Sappho:

Ποικιλόθρον’ ἀθανάτ’ Ἀφρόδιτα,
παῖ Δίος, δολόπλοκε, λίσσομαί σε,
μή μ’ ἄσαισι μηδ’ ὀνίαισι δάμνα,
πότνια, θῦμον, / …

«Unsterbliche Aphrodite mit dem bunten Thron, Tochter des Zeus, Listenflech­terin, ich flehe Dich an, bedrücke mir, Herrin, nicht die Seele durch Kummer und Leid!»

Und jetzt vergleichen Sie damit unseren Hymnus an Agni Jātávedas! Drei der vier Ver­se entsprechen in den letzten sieben Silben genau dem sapphischen Vers, der erste sogar von Anfang an:

jātávedase sunavāma sómam                 – ⏑ – ⏑         – ⏑ ⏑       – ⏑ – ⏓
arātīyató ní dahāti védaḥ /                       ⏑ – – ⏑          – ⏑ ⏑       – ⏑ – ⏓
sá naḥ parṣad áti durgā́ṇi víśvā              ⏑ – – ⏑         ⏑ ⏑ –       – ⏑ – ⏓
nāvéva síndhum duritā́ti agníḥ //            – – ⏑ –         – ⏑ ⏑       – ⏑ – ⏓

Die ersten vier Silben sind im Vedischen zwar freier als bei Sappho. Bei ihr kann hier nur die vierte lang oder kurz sein.[11] Und auch die drei Silben in der Mitte variieren im Vedischen; neben  – ⏑ ⏑  ist aber nur  ⏑ ⏑ –  häufig, wie hier in der 3. Zeile. Trotz diesen grösseren Frei­heiten des vedischen Verses können diese Übereinstimmungen kaum Zufall sein, – und es gibt durchaus noch weitere metrische Ähnlichkeiten. Kombiniert mit den anderen Vergleichs­merkmalen lassen sie keinen Zweifel an der Existenz der­artiger Dichtung bei den Urindoger­manen um 3000 v. Chr.

Besonders wichtig ist bei alledem aber die Übereinstimmung des Vedischen mit dem Grie­chischen in bezug auf das Prinzip, dass es bei der Dichtung auf die Abfolge von langen und kurzen Silben ankommt, wobei Kürze und Länge in beiden Sprachen genau gleich definiert sind: Eine Silbe ist kurz, wenn sie auf Vokal endet und dieser kurz ist; alle andern Silben sind lang. Im Griechischen sehen wir zudem besonders deutlich, dass eine lange Silbe doppelt so lange dauert wie eine kurze: Weist ein Vers nämlich eine regelmässige Abfolge gleicher Versfüsse auf, so kann eine lange Silbe oft durch zwei kurze ersetzt werden, da der Rhythmus so immer noch gut erkennbar bleibt. Ist der Versrhythmus da­ge­gen unregelmässig, wie z.B. in den besprochenen Elfsilblern, wird auf derartige Auflösung verzichtet, und damit ist die Zahl der Silben in diesen Versen fix. Das Verhältnis «lang : kurz = 2 : 1» ist auch in der vedischen Rezitation bewahrt. Und schliesslich sind offenbar auch die Römer, die ihre ererbte Dichtung zwar verlo­ren hatten, jedoch in historischer Zeit zahlreiche Versmasse in vielen Dichtungs­gattungen von den Griechen übernommen haben, mit diesem metrischen Prin­zip sehr gut zu­recht gekommen.

Das Prinzip von langen und kurzen Silben betrifft nun aber nicht einfach nur die Dich­tung, sondern es liegt tief in der Sprache selbst begründet. Auf diese Weise muss schon die indo­germanische Grundsprache funktioniert haben.

Das Griechische und das vedische Sanskrit zeigen überdies als einzige unter den Fortsetzern der indogermanischen Grundsprache eine weitere frappante phoneti­sche Übereinstimmung, nämlich in der Qualität und der Stelle des Akzents. Hier ein paar Beispiele in ererbten Wör­tern und Formen:

Nominativ          pitā́              πατήρ            der Vater
Akkusativ          pitáram      πατέρα          den Vater
Dativ                   pitré             πατρί             dem Vater
Vokativ               pítar             πάτερ             Vater!
1. Pers. sing.    émi                εἶμι                  ich gehe
1. Pers. plur.     imás              ἰμέν                wir gehen

Wir dürfen die beiden Sprachen deshalb ohne Zögern für die Repräsentanten der ältest-fass­baren Entwicklungsstufe der indogermanischen Akzentuierung hal­ten, wogegen die meisten anderen indogermanischen Tochtersprachen deren Charakter und damit oft auch die Stelle des Wortakzents verändert haben, meist wohl unter dem Einfluss anderer Sprachen, mit denen sie auf ihren Wanderun­gen oder dort, wo sie schliesslich sesshaft geworden sind, längeren Kontakt hat­ten. Solche Systemände­rungen in der Akzentuierung kommen in den Sprachen häufig vor. Sogar in Indien ist eine solche schliesslich zu beobachten: Die Akzen­tuierung der vedischen Sprache hat sich im späteren 1. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung hin zur klassischen Sanskritsprache grundlegend gewandelt. Auch Griechisch und Latein haben ihr Ak­zentprinzip auf dem Weg zu ihren modernen Nachfolgesprachen deutlich verändert.

Dass das vedische Sanskrit und das Altgriechische nicht nur die urindogerma­nische Silben­struktur und Akzentuierung, sondern auch die Dichtungstradition mit aus lan­gen und kurzen Silben bestehenden Versmassen am treuesten be­wahrt haben, ist somit ganz natürlich.

Eine solche, wie man sagt, quantitierende poetische Tradition ist in der Mensch­heitsgeschichte singulär, jedenfalls kenne ich nichts auch nur annähernd Ver­gleich­bares. Und vor allem: Diese poetische Tradition existierte jahrtausende­lang völlig ohne Schrift, im wahrsten Sinne als «Literatur avant la lettre», bewegte sich jedoch, wie das Altindische, das Griechische und auch das Germanische einhellig zeigen, auf einem ausserordentlich hohen poetischen und stilistischen Niveau. Nicht nur sind die mythischen Geschichten dieser Völkerschaften im ein­zelnen voller Dramatik und die aus ihnen kombinierten grossen Zyklen sorgfäl­tigst durchdacht, sondern die Texte sind auch im Detail reich ausgestaltet, voll von Gleichnissen, Aitiologien, Namenser­klä­rungen, schmückenden Beiwörtern und feinen Naturbeobachtungen. Weiter wer­den sie mittels einer hoch ent­wickelten Syntax und einem grossen und differenzierten Wortschatz erzählt, sind mit Figurae etymologicae, Alliterationen (im Germanischen Stabreim genannt), Chiasmen, Par­allelismen usw. reich verziert, – kurz, sie zeugen von höchster literarischer Rhetorik. Das ging nicht ohne eine ununterbrochene Folge von Lehrern und Schülern, ob wir die ersteren nun Ṛṣi’s oder Druiden oder wie auch immer nennen wollen. Und ich könnte mir sehr wohl vorstellen, dass nicht wenige häufig wie­derkehrende Verse oder stehende Formeln etwa des Rigveda deut­lich weiter zurück­gehen, als wir heute auch nur zu denken wagen. Freilich kämen wir der Welt­schöpfung damit noch nicht viel näher, und auch die Sprache wäre bald nicht mehr das vedische Sanskrit, sondern vielleicht Indoiranisch oder gar Indogermanisch.

Es lohnt sich jedenfalls sehr, diese frühen Texte zu lesen und zu erforschen, egal ob sie die Grundlagen heute noch praktizierter Religionen sind, wie eben z.B. die Veden für die Hindus, oder ob es sich – wie bei der vorchristlichen griechisch-römischen Literatur oder auch den mittelalterlichen Dichtungen – um Texte han­delt, die heute von niemandem mehr politisch oder religiös monopolisiert werden können und die einzig wegen ihrer Qualität erhalten ge­blieben sind. In beiden Fällen aber ist es wich­tig, dass es auf der Welt immer genug Men­schen gibt, die auch die entsprechenden Originalsprachen sehr gut lernen. Übersetzun­gen sind ja immer nur ein Notbehelf. Sie können den Reichtum eines Textes nie voll­ständig abbilden, veralten rasch (wogegen der Originaltext paradoxerweise immer gleich jung bleibt) und sind oftmals ungenau oder sogar falsch oder mani­puliert. Im Sanskrit etwa gibt es zahl­lose Beispiele dafür, dass irgendwelche selbsternannten Gurus Texte nach Belieben interpre­tieren und östlichen und westlichen Adepten, die von der Sprache keine Ahnung haben, als gros­se Weis­heit verkaufen. Die griechischen und lateinischen Texte, auch die christlichen, dagegen sind bei uns seit Gutenberg dank der weit verbreiteten Kenntnis der alten Sprachen unter strenger «demokratischer» Beobachtung gestanden, sehr zum Nut­zen ihrer genauen Er­forschung und korrekten Interpretation. Hoffentlich bleibt das so!

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Wie diese alten Sprachen am besten gelernt werden, vor allem Latein und Grie­chisch, aber auch Sanskrit, darüber ist seit langem eine rege Diskussion im Gange. Dass in diesem Prozess die Sprachwissenschaft ein gewichtiges Wort mitzureden hat, sollte sie ihren Zunftgenossen von der Literaturwissenschaft und Didaktik immer einmal wieder freundlich anmahnen. Das möchte ich mit dem zweiten, längeren Teil dieses Vortrags tun, der thematisch unmittelbar an den ersten anknüpft.

Die «Orality», von der die poetische Ur- und Frühgeschichte der Indogermanen ge­prägt war, hat sich auch in der griechisch-römischen Literatur viel stärker, als man denken könnte, fort­gesetzt, sogar als die Alphabetschrift schon allgegen­wärtig war. Denken Sie an die Reden eines Isokrates, Demosthenes, Cicero und an die unzähligen Reden, die die antiken Historiker in ihre Werke eingeflochten haben. Denken Sie an Platon, der seine philosophischen Erörte­rungen in Ge­sprächsform gegossen hat, an die Tragödien und Komödien, die für die Bühne geschaffen wurden, oder an die Werke etwa der augusteischen Dichter wie Vergil, Horaz, Ovid, die zunächst vor allem rezitiert wurden. Vergil etwa muss ein besonders guter und stimmgewaltiger Rezitator gewe­sen sein.[12]

Meine Frage ist nun die folgende: Werden wir diesem weit überwiegend münd­lichen Aspekt der antiken Literatur gerecht? Lernen wir, Texte in den alten Spra­chen auch adäquat laut zu lesen, so dass wir ihre damalige Wirkung mindestens einigermassen nachvollziehen können?

Die Antwort ist ein verlegenes Nein! Und die Begründung folgt jeweils auf dem Fuss: Wir können ja nicht wissen, wie tote Sprachen vor hunderten oder tausen­den Jahren geklungen haben und wie Verse damals rezitiert wurden, nicht zu reden von der Musik, die in einigen prominenten Literaturgattungen sehr wichtig war.

Ich für meinen Teil bin da deutlich optimistischer! Die Skepsis stimmt zwar in bezug auf die Musik. Von der wissen wir tatsächlich fast nichts. Für die Phonetik der Sprache und die met­rische Struktur dichterischer Texte dagegen sind wir sowohl im Latein, als auch im Griechi­schen dank wissenschaftlichen Texten aus der Antike sehr genau informiert, kaum weniger genau als für das Sanskrit, und die moderne Sprachwissen­schaft kann noch zusätzliche wert­volle Information beisteuern. Ich zögere nicht zu behaupten, dass wir so gut und überzeugend, wie wir dies in einer modernen Fremd­sprache zustande bringen, auch Texte auf Latein oder Griechisch rezitieren können. Natürlich werden wir einen hörbaren accent nie verleugnen können. Aber den behal­ten wir auch in modernen Fremd­sprachen ein Leben lang, ohne dass dies die Über­zeugungskraft eines vorgetra­genen Textes gleich ruiniert. Voraussetzung ist einfach, dass wir die alten Spra­chen erstens gut beherrschen und uns zweitens im Hinblick auf eine mündliche performance ein bisschen bemühen!

Just das letztere tun wir aber eindeutig zu wenig. Die Lateiner und Griechen un­ter Ihnen wis­sen genau, wovon ich rede: Das erste Problem sind die Vokalquanti­täten, von denen bekannt­lich oft auch die Länge der betreffenden Silbe und da­mit sogar die Ak­zentstelle des Wortes oder der Form abhängt. Hier müssen sich vor allem die Lehrkräf­te an der Nase nehmen. Wenn sie den Schülerinnen und Schülern die Wörter und For­men von Anfang an richtig bei­bringen und im Unter­richt selber alles konsequent rich­tig aussprechen würden, so wäre später das Lesen dichterischer Texte nicht mit so viel Zeitverlust und Frustration verbun­den. Dass die altsprachliche Didaktik diesem Punkt nicht mehr Beachtung schenkt, finde ich eine schwache Leistung. Und schwach ist auch der Trost, dass es ja alle falsch machen: nicht nur wir im deutsch­sprachigen Raum, son­dern ebenso die ganze Frankophonie, Italophonie und Anglo­phonie.[13] In ande­ren altsprachlichen Schultraditionen kenne ich mich zu wenig aus, aber das Fazit ist klar: Wir sprechen alle, vom Schüler bis zur Professorin, das Latein und das Altgriechische so aus, als ob es unsere Muttersprache wäre, und achten über­haupt nicht auf ihre phonetischen Eigenheiten. Es gibt ja keine native speakers, die uns kritisieren oder gar auslachen könnten. Und so klingen die Alten Spra­chen je nach Landes- und Unterrichtsspra­che völlig unterschiedlich und be­kräftigen damit allzu bereitwillig ihren Ruf, tot zu sein.  

Dabei ist der Zusatzaufwand, die Quantitäten und Betonungen ein für allemal richtig zu ler­nen, minim. Statt nachlässigem divído divídi divísum divídere könn­ten wir genau­sogut richtig lernen dī́vidō, dīvī́dī, dīvī́sum, dīvĭ́dere.

Zudem fällt dieser Zusatzaufwand nur bei den Lehrerinnen und Lehrern an; die Schü­ler müs­sen nämlich jedes Wort oder jede Form nur ein-, zwei-, dreimal rich­tig hören, dann haben sie sie genauso im Gedächtnis und entwickeln in kurzer Zeit ein kompe­tentes phonetisch-pros­odisches Sprachgefühl. Der Nutzen die­ses kleinen Aufwands aber ist immens, nämlich weil sich, wie erwähnt, falsch gelernte Quantitäten später bei der Lektüre poetischer Texte verhee­rend aus­wirken. Wegen dieser unserer Nach­lässigkeit klingen die Alten Sprachen, horri­bile dictu, schon in Prosa und in Poesie völ­lig verschieden, sogar in ein und der­selben landes­sprachlichen Tradition! Dass dies die Schüler verunsichert und entmutigt, muss uns nicht wundern, denn dies ist in keiner lebenden Sprache so.

Nun hört und liest man allerdings immer wieder den Einwand, im Latein müsse in der Dich­tung Vokalelision gemacht werden, in der Prosa aber nicht, somit hätten Prosa­latein und Poesielatein auf jeden Fall verschieden geklungen. [Zur Erklä­rung: Elision ist ein Phänomen, welches oft eintritt, wenn in einem Text ein Wort auf einen Vokal endet und das nächste mit einem Vokal beginnt[14], eine Situa­tion, die man Hiat nennt. Durch die Elision wird der erste der beiden Vokale un­terdrückt, und der Hiat ist weg. Da so gegenüber der Wort-für-Wort-Aussprache regelmässig eine Silbe eingespart wird, wird der Sprachfluss nicht nur geschmei­diger, sondern auch rascher. Wenn man nun aber die Elision in einem dichteri­schen Text nicht beachtet, hat der Vers zu viele Sil­ben, und sein Rhythmus ist kaputt. Die Dichter haben ihre Texte ohne jeden Zweifel so komponiert, dass sie nur richtig klingen, wenn die Hiate elimi­niert werden.]

Die Behauptung, dass sich gesprochene Prosa und Poesie in diesem Punkt un­ter­schieden haben sollen, ist aber blanker Unsinn! Alle Sprachen ohne Ausnah­me zeigen eine starke Abneigung gegen Hiat in der Rede und eliminieren ihn, so gut es nur geht, und zwar in Prosa eher noch konsequenter als in Poesie. Elision ist dafür eines der häufigsten Mittel, aber nicht das einzige. Wir alle tilgen beim Sprechen jeden Tag hunderte von drohenden Hiaten:

Statt le ami sagen wir l’ami, statt una amica – un’amica, statt tutti insiemetutt’insie­me, statt un ami – un ami, statt les amis – les amis, statt a applean apple, statt e Eiche – en Eiche, statt es Hüüsli i de Bèèrgees Hüüsl’i de Bèèrge, statt es Hüüsli am See es Hüüslj am See usw.

Und warum sollte die antike Poesie überhaupt etwas eingeführt haben, was dem prosaischen Normalgebrauch der Sprache fremd war?

Richtig ist ohne jeden Zweifel das Gegenteil, und wir kommen zur niederschmet­ternden Einsicht, dass wir lateinische und griechische Prosa noch falscher aus­sprechen als die Poesie.

Besonders erhellend ist es, italienische Texte auf diesen Punkt hin zu prüfen. (Das Italienische ist dem antiken Latein ja unzweifelhaft am ähnlichsten!) Sie werden dort beobachten, dass auch in Prosa Hiat fast immer vermieden wird, bei gleichartigen Vokalen durch Elision oder Kontraktion, bei verschiedenartigen Vokalen durch soge­nannte Synaloephe, d.h. Verschlei­fung zu einer Art Di­phthong, oft aber auch auch hier durch Elision oder – bei i und u als erstem Vokal – durch deren Konsonantisierung, wie bei es Hüüslj am See. Fast immer fällt gegenüber einer Wort-für-Wort-Aussprache eine Silbe weg. Nur bei Sinnein­schnitten, Kunst­pausen oder bei bewusst langsamem Sprechen wird Hiat geduldet. Sie können dies in jedem italienischen Gespräch im Tram beobachten, oder noch bequemer auf Youtube z.B. in einer Rezitation von Manzonis I promes­si sposi (https://youtu.be/oTVDxoX343g, mit eingeblende­tem Text). Da kommt diese Praxis der Hiatvermeidung auf jeder Seite x-mal zur Anwendung.

In der italienischen Poesie ist es genau gleich. Schon bei Dante sind zahlreiche Elisio­nen im Text sogar explizit vorgeschrieben und durch Apostroph markiert, genau wie übrigens oft auch im Griechischen, z.B. in dem Sappho-Gedicht, das wir kurz gestreift haben. Die in der Schrift belassenen Hiate werden von den modernen Dante-Rezitato­ren teils durch Elision, teils durch Synaloephe getilgt, um den vom Dichter beabsichtig­ten Rhythmus und die richtige Silbenzahl zu gewinnen. Auch das finden Sie mit ein paar Klicks auf Youtube. Es klingt dann etwa so (Anfang des «Inferno»):

Nel mezzo del cammin di nostra vita
   mi ritrovai per una selva͜ oscura,
   ché la diritta via͜ era smarrita.
Ahi quanto͜ a dir qual era͜ è cosa dura
   esta selva selvaggia͜ e aspra͜ e forte,
   che nel pensier rinova la paura!
Tant͜’ è amara che poco͜ è più morte! –
   Ma per trattar del ben ch͜’i’ vi trovai,
   dirò de l͜’altre cose ch͜’i’ v͜’ho scorte.

Wenn wir solche Erkenntnisse aus lebenden Sprachen ernst nehmen, so müssen wir antike Prosa halt leicht anders lesen, als wir es gewohnt sind. Der vielen von ihnen wohlbekannte Anfang von Caesars Bellum Gallicum klingt dann etwa so:

Gallia (e)st omnis divis(a) in partes tres, quar(um) un(am) incolunt Bel­gae,_ali(am) Aquitani, tertiam, qu(i) ipsorum lingua Celtae, nostra Galli̯ appellantur.

«Gallien ist als ganzes in drei Teile geteilt, von denen einen die Belger bewohnen, einen anderen die Aquitaner und den dritten die, die in ihrer eigenen Sprache Kelten, in unserer Gallier genannt werden.»

Oft haben wir die Wahl zwischen Elision und Synaloephe, wie noch heute im Ita­lieni­schen. Da gibt und gab es kein stures richtig oder falsch; wichtig ist einzig der Zusam­menzug zu einer Silbe. Einen Hiat habe ich wegen des Sinneinschnit­tes belassen, auch da sind wir beim Rezitieren von Prosa frei. Das ganze ist über­haupt keine Hexe­rei. Und wenn man es schon im Elementarunterricht praktiziert, ist es von hier zur Poesie später nur noch ein winziger Schritt.

Zu den Vokalquantitäten und der Hiattilgung kommt als dritter Punkt die Akzen­tuie­rung der Wörter. Vielleicht haben Sie schon vom grössten Philologenstreit im Bereich der Metrik der klassischen Sprachen gehört. Er betrifft das Verhältnis zwischen dem Versiktus und dem Wortakzent. Man ist in Europa seit Jahrhunder­ten automatisch davon ausgegangen, dass z.B. im Hexameter die erste Hälfte des Versfusses lauter und schwerer war als die zweite, etwa so:

 –́   ⏑ ⏑     –́   ⏑ ⏑       –́  /  –      –́   –      –́   ⏑ ⏑     –́   ⏓

didi, didi, / dō, dō, didi, dō.

Die starke Hälfte nennt man Hebung, die schwache Senkung.

Dabei hat man sich aber permanent daran gestossen, dass die antiken Dichter den Wortakzent sehr häufig just in die Senkung statt in die Hebung gelegt haben, so dass etwa im Latein Wör­ter plötzlich auf der letzten Silbe betont sind, was gegen die grund­legende Akzentregel der lateinischen Sprache verstösst. Nehmen Sie den Anfang von Vergils Aeneis, so wie er von 99% der Lateinfreunde rezitiert wird (nicht nur in deut­schen Landen[15]); man hat für diese Rezitati­onsweise sogar ein eigenes Verbum erfunden: skandieren.

´Arma virúmque canṓ, Troiáe qui prī́mus ab órīs /
´Ītaliám, fātṓ profugús, Lāvī́ni̯aque vḗnit / lī́tora.

«Von Waffen singe ich und dem Mann, der als erster von Troias Küsten, durchs Schick­sal zum Flüchtling geworden, nach Italien und an die lavinischen Gestade gekommen ist.»

Warum nur mutet uns der geniale Dichter diese Formen canó und Troiáe und ´Italiám und fató und profugús und tausende andere solche Fälle zu, obwohl es in korrektem Latein eindeutig cáno, Tróiae, Ītáliam, fáto und prófugus heisst? Wenn sich das ein deutscher Dichter – oder ein Basler Fastnächtler – erlaubte, er würde in die Wüste geschickt! Friedrich Schiller schreibt denn auch:

Durch diese hohle Gasse muss er kommen, 
es führt kein andrer Weg nach Küssnacht. Hier 
vollend ich’s, die Gelegenheit ist günstig.

Unmöglich hätte er folgendermassen dichten können:

Diesé hohlé Gassé muss er durchqueren, 
denn és führt kein andrér Weg nach Küssnácht
.[16]

Was ist also nur mit Vergil los? Und mit Lukrez, Horaz, Ovid, Lucan?

Es ist ganz einfach: Wir modernen Antikeverehrer, vor allem in der deutsch-, ita­lie­nisch- und englischsprachigen Philologie, sind schlicht von falschen Voraus­setzun­gen der antiken Metrik ausgegangen, haben, ohne viel zu denken, unser eigenes, modernes Versprinzip, das wir übri­gens schon bei Dante sehen, der Antike überge­stülpt und uns dann gewundert, warum es nicht klappt. Der Schluss, den wir ziehen müssen, ist unausweichlich: Es gab in der Antike keinen Intensitätsiktus im Vers, auch nicht in den regelmässigen Versmassen wie dem Daktylus oder Iambus. Sie erinnern sich, wir haben schon beim Vergleich der griechischen und alt­indischen Dichtung und Sprache gesehen, worauf es wirk­lich ankam: auf die Unterscheidung von langen und kurzen Silben, das heisst auf den Rhythmus der Wörter und Sätze und Verse. Von lauten und leisen Positionen im Vers spricht kein antiker Grammatiker[17].

Und auch was den Wortakzent betrifft, sagen die altgriechischen Grammatiker deut­lich, er klinge etwa eine Quinte höher als die unbetonten Silben. Von laut und leise steht nichts. Lautstärke kann somit jedenfalls nicht das primäre Krite­rium gewesen sein. Für das Latein sind die Aussagen zwar etwas weniger expli­zit, von mehr oder weniger Lautstärke ist aber auch da nie die Rede.[18]

Fazit: Der antike lateinische und griechische Sprach- und Versrhythmus beruhte auf der Silbenlänge, der Wortakzent auf der Tonhöhe, beide aber nicht auf der Lautstär­ke[19].

Das ist zwar alles nicht neu, doch wir weigern uns standhaft, es zu beachten, wenn wir alt­sprachliche Texte laut lesen!

* * * * * * *

Wollen wir versuchen, es besser zu machen?

Dann lesen wir erstens die Verse rhythmisch, aber ohne Intensitätsiktus, dafür können wir dem normalen Wortakzent wieder zu seinem Recht verhelfen. Poesie klingt dann ein wenig wie Prosa:

Arma virumque cano, Tróiae qui primus ab oris /
Itáliam, fáto prófugus, Laviniaque venit / litora.

Dass man so den Rhythmus des Verses nicht mehr heraushört, wie vor allem deutsch­spra­chige Metriker immer wieder behauptet haben (s. Anm. 17f.), stimmt nicht.

Zweitens lesen wir auch Prosa nicht nur mit Hiattilgung, wie vorher schon de­mon­striert, sondern nun auch rhythmisch. Wir geben also jeder langen Silbe ihre Zeit und jeder kurzen die Hälfte. Dazu müssen wir uns natürlich genau im klaren sein, welche Silben lang und welche kurz sind. (Ja, wenn wir das seinerzeit nur richtig gelernt hät­ten!) Das laute rhyth­mische Lesen von Prosa lernen wir dabei am besten, indem wir dazu klopfen oder dirigieren, wie beim Singen, später kön­nen wir das wieder weglas­sen und auch das Tempo erhöhen. Wenn wir es richtig machen, so klingt Prosa plötz­lich ein wenig poetisch:

Gallia ’st omnis divis’ in partes tres, quar’ un’ incolunt Belgae,_ali’ Aquitani, tertiam, qu’ ipsorum lingua Celtae, nostra Galli̯ appellantur.

In dieser «prosodischen Rezitation», wie man das nennen könnte, gibt es nur noch éin mündliches Latein: Prosa klingt wie Poesie, nur dass sie eben nicht in immer gleiche Rhythmen und Verse gebunden ist; und Poesie klingt dank der normalen Akzentuie­rung der Wörter plötzlich so, dass man sie ebensogut übers Ohr versteht wie Prosa.

Nun möchte ich aber noch einen weiteren Faktor ins Spiel bringen, und hier kommt die Sprachwissenschaft gleich noch einmal zum Einsatz. Es besteht nämlich die Gefahr, dass wir das Kind mit dem Bade ausschütten, wenn wir etwa beim Verselesen alle Wör­ter nun brav mit ihrem Wortakzent versehen:

´Arma virúmque cáno, Tróiae quí prímus áb óris /
Itáliam, fáto prófugus, Lavíniaque vénit / lítora.

Ich übertreibe hier natürlich, aber Sie merken sofort: So funktioniert gesproche­ne Sprache nicht. Es gibt im Satz nämlich zwei Kategorien von Wörtern: schwere und leichte, und die leichten sind unbetont. Die Frage ist nur, welche im konkre­ten Text zu dieser Kategorie gehören. In unserer Muttersprache wissen wir das ganz genau, in einer fremden und speziell einer «toten» Sprache aber müssen wir das erst lernen und üben. Wenn wir auch dies noch richtig machen, gewinnt unsere mündliche Wieder­gabe der Klassischen Sprachen eine Quali­tät, die es mit derjenigen in einer modernen Fremdsprache ohne weiteres aufnehmen kann!

Die Frage, welche Wörter damals in einem Satz betont waren und welche nicht, ist eigentlich ganz einfach zu beantworten: Es waren genau die gleichen wie heute. Hier kommen zwei sprachwissenschaftliche Erkenntnisse zum Tragen, die weit über die indogermanische Sprach­familie hinaus Geltung haben: erstens Proklise und Enklise, zweitens das Prinzip von Topic und Focus, auch Rhēma und Thĕma genannt.

Die erste Erscheinung besagt, dass sich gewisse Wörter im Satz an nachfolgen­de oder voran­gehende betonte Wörter anlehnen und selber keine Betonung haben. Typische Proklitika sind Artikel und Präpositionen. Wir sagen: in die Stádt, unter dem Tísch; aber auch viele Konjunk­tionen und Pronomina zeigen diese Anlehnung nach vorne: wenn er kómmt …, aber nún …, und dánn ... Typische Enklitika dagegen sind z.B. die Wörtchen, von denen wir im Latein­unterricht lernen, dass sie nachgestellt sind, wie -que, -ve, -ne, autem, quidem, quoque, enim, igitur usw., oder auch viele Prono­mina, wie man im Griechischen, im Vedischen oder auch im Schweizerdeutschen be­sonders gut sieht: Chö́med’s hüt? Chunnsch mít mer?

Den wichtigsten Beitrag zur Enklise hat 1892 Jacob Wackernagel publiziert, der indo­ger­manistische Lokalheros dieser Universität, den ich hier nicht unerwähnt lassen will.[20] Die moderne Linguistik kennt das Prinzip heute unter der Be­zeichnung «Wacker­nagel’s Law». Besonders folgenreich war seine Beobachtung, dass in den indogerma­nischen Sprachen das Verbum im Hauptsatz sehr oft in Zweitposition steht. Eine Folge davon ist die heutige Verb­zweitstellung im deut­schen Hauptsatz: Weihnachten steht wieder vor der Tür. Schon steht Weih­nachten wieder vor der Tür. Und siehe da: In den vedischen Texten, wo die Akzente, wie gesagt, mit penibler Genauigkeit überliefert sind, ist das Haupt­satzverbum unbetont, ausser wenn es am Satzanfang steht – weil es dann eben betont ist. Genau dasselbe gilt für den Vokativ.

So stellen wir amüsiert fest, dass sich das Problem «canṓ oder cánō?» in unse­rem Vergilvers in Luft auflöst, denn das Verbum ist unbetont: ´Arma virúmque canō. Und bei Caesar wird das est durch die spezielle für dieses Verbum gelten­de Elisionsregel sogar seines Vokals be­raubt: ’st. Schwächer könnte es gar nicht sein! Gallia ’st omnis divisa …

Das zweite Prinzip – ausserordentlich wichtig in allen Sprachen – besagt, dass Topic-Ele­mente, das sind Dinge im Satz, von denen vorher im Text schon die Rede war oder die sich von selbst verstehen, unbetont bleiben und nur Focus-Elemente, das heisst neue, wichtige, überraschende Dinge, durch ihren Wortak­zent hervorgehoben wer­den. Je nach Sprache kann damit auch eine bestimmte Plazierung im Satz einher­gehen. Man nennt das die Informations­struktur eines Textes. Auch dieses Prinzip stützt unsere bisherigen Erkenntnisse bestens: Arma virumque ist die Inhaltsangabe der nächsten 12 Bücher; dies ist Focus und somit betont. Dass ein Dichter singt, ist dagegen banal; das Verbum canō ist Topic, also unbetont. Ebenso ist Gallia wichtige Inhaltsangabe, est dagegen ein rein funktionales Verbum. Dass sich Topic-Elemente dabei gerne in enklitischer Position verstecken, muss uns nicht wundern. Letztlich ist Enklise nur eine Realisierung des Topic-Prinzips mittels Wortstellung. Wénn aus­nahms­weise einmal ein Pro- oder Enklitikum in den Focus rückt, also betont wird, ver­ändert sich der Sinn dramatisch, das hören Sie sofort:

Under em Tísch! ´Under em Tisch! Under dém Tisch!
Wenn er kómmt, legen wir gleich los!
Wénn er kommt …
Chö́med’s hüt?
Chömed síí hüt?
Chunnsch mít mer?
Chunnsch mit míír?

So führt die Sprachwissenschaft zu Einsichten, die uns beim Erlernen und für das Verständnis einer Fremdsprache sehr nützlich sein und unter anderem schliesslich in einer überzeugenden Rezitation gipfeln können. Die bisherige griechische und römi­sche Metrik hat, obwohl sie weiss wie um einen plausiblen Vortrag antiker Verse ge­rungen hat, weder der Enklise noch dem Topic-und-Focus-Prinzip Beachtung ge­schenkt.

Für das Griechische gelten alle diese Dinge selbstverständlich genau gleich auch. Wir dürfen zum Beispiel im ersten Vers der Odyssee die Wortakzente des Verbums und des Vokativs beim Rezitieren glatt ignorieren und mit dem Prono­men zusammen eine dreiteilige Enklitika­kette lesen:

Ἄνδρα μοι ἔννεπε, Μοῦσα, πολύτροπον.

Nur ἄνδρα und πολύτροπον sind Focus-Wörter: «Den Mánn künde mir, Muse, den víelge­wandten», wodurch das prächtige Hyperbaton erst richtig zur Geltung kommt. Genauso wären in diesem Satz im Vedischen die Akzente gesetzt bzw. eben wegge­lassen. Die schriftliche Akzentsetzung des Griechischen blickt nur auf das Wort, nicht auf den Satz.[21]

Die Prinzipien, die ich Ihnen hier dargelegt habe, können Sie im Alltag pausenlos beob­achten. Da sie den mündlichen Sprachgebrauch betreffen, scheinen sie mir ganz be­sonders hilfreich zu sein. Wir Menschen sind nämlich primär mündlich, nicht schriftlich funktionierende Sprachwesen. Das sagen auch ganz richtig die Kollegen am Gymna­sium Solothurn zugunsten ihres jüngsten und sehr erfolgrei­chen Projekts, im Unter­richt wenigstens teilweise lateinisch zu sprechen.[22] Den gymnasialen Unterricht habe ich, das haben Sie schon gemerkt, in dieser Vorlesung sehr intensiv ins Auge gefasst, und ich kann die hiesigen Prinzipien den Lehrkräf­ten schon für den Elemen­tarunterricht nur empfehlen!

* * * * * * *

Da aber Mündlichkeit so wichtig ist, ist es sicher richtig, wenn wir zum Schluss noch­mals einen Blick nach Indien tun, und zwar mit folgender Frage: Haben es die Inder dank ihrer stark mündlich geprägten und bis heute ungebrochenen religiösen und literarischen Tradition geschafft, ihre vedischen Texte in authenti­scher Rezitation bis in die heutige Zeit herüberzu­retten? Die Antwort ist fast ein Ja! – Sehen wir uns den kleinen Agni-Hymnus nochmals an!

Erstaunlich genau überliefert ist in der Rezitation erstens der Rhythmus der Ver­se, also die Abfolge langer und kurzer Silben, einschliesslich der Vokalquantitä­ten. Letztere sind auch in der Dēvanāgarī-Schrift präzise ausgedrückt; unser Alphabet zeigt in diesem Punkt eine fatale Schwäche.

Sehr gut überliefert sind zweitens die damals gültigen Massnahmen zur Hiattil­gung. Diese bilden einen Teil der Ausspracheanpassungen an der Wortgrenze, d.h. beim Zusammentreffen von Wörtern im Satz. Diese Anpassungen nennen die altindischen Grammatiker «Sandhi», und sie haben sie präzise erforscht und beschrieben. Das hat bei uns grossen Eindruck ge­macht, denn das hatten die westlichen Sprachwissen­schaftler seit der Antike völlig übersehen. Dabei haben auch wir viele solche Sandhi­erscheinungen, sogar im Bereich der Konsonanten. So etwa wenn sich der Artikel die im Dialekt dem folgenden Substantiv anpasst. Normal als t klingt er in: t’Öpfel schele, t’Roose schniide. Ganz anders aber spre­chen wir ihn hier: k’Chüe mälche, p’Fläsche füle, und in (d’)Ziitig hole wird er überhaupt nicht hörbar gemacht.

In unserem Hymnus dienen zwei Sandhiregeln der Hiattilgung, beide in der 4. Zeile: Hier wurde nāvā́ iva «wie mit einem Schiff» zu nāváiva zusammengezogen, das heute nāvéva ausgesprochen wird, und duritā́ áti «über die Gefahren hin­weg» zu duritā́ti. Genau wie in den Gedichten der Griechen und Römer, oder auch bei Dante, muss hier der Hiat unbedingt getilgt werden, sonst stimmt die Zahl der Silben und der Rhythmus des Verses nicht.[23]

Zusätzlich zum Rhythmus und der Hiattilgung ist nun aber drittens in der übli­chen vedischen Rezitation die «Musik» sehr wichtig. Sie kennt nur drei Töne: In der Mitte steht der Grund­ton, auf dem zu Beginn der Rezitation mit der Silbe ooom angestimmt wird, die anderen beiden sind einen Ganzton tiefer bzw. einen Halbton höher, der letz­tere je nach Tradition oft zweitönig, aufwärts mit Vorhalt oder abwärts als Vorschlag. Wir sollten nun allerdings nicht glauben, dass diese «Drei-Ton-Musik» die originale Melodie ist, zu der die Dichter vor gut 3000 Jahren diese Hymnen komponiert und ge­sungen haben. Jene Melodien, die ja bestimmt einen Umfang von mehr als drei Tönen hatten, sind längst verstummt, genauso wie die der Griechen und Römer. Aber ich will die heutige für die Vedarezitation so charakteristische «Musik» in keiner Weise ge­ringschätzen. Sie ist nämlich absolut essentiell! Vielleicht haben Sie sich ja schon gefragt, woher wir denn wissen, dass die vedischen Wörter so betont waren, wie wir in der Transkription die Akzente setzen. Also z.B. jātávedase; im klassischen Sans­krit wäre das näm­lich jātavédase. Und arātīyató, was zu klassisch arātī́yato wurde. Genau diese Information transportiert die «Drei-Ton-Musik». Dabei gibt es in den alten Hand­schrif­ten der vedischen Überlieferungen durchaus unterschiedliche Notations­syste­me; in den Rezi­tationen überwiegt heute aber bei weitem das gängige für den Rigveda überlieferte System.

Dieses ist gar nicht so schwer zu verstehen: Laut den antiken Autoren, vor allem dem be­rühmten Grammatiker Pāṇini (ca. 4. Jh. v. Chr.), gab es drei verschiedene Akzent­qualitäten, erstens udātta «erhöht», zweitens anudātta «nicht erhöht» und drittens svarita, etwa «tö­nend».

Dabei kündet anudātta einen udātta der nächsten Silbe an, und svarita, laut Pāṇini (1.2.31) eine Kombination von udātta und anudātta, schliesst den udātta der vorheri­gen Silbe ab, zeigt also das Absinken von udātta hinunter auf anudāt­ta. Der vedische Akzent war somit ein Tonhöhen-Akzent[24], genau wie der griechische und zweifellos auch der klassisch-lateini­sche. Die Silbe mit dem udātta, also dem erhöhten Akzent, entspricht im Vergleich ererbter Wörter und Formen regelmässig der betonten Silbe im Altgriechischen.

Im heute für den Rigveda gebräuchlichsten Drei-Ton-System wird der anudātta auf dem tiefsten der drei Töne gesungen, der svarita auf dem höchsten. Zwei Dinge sind dabei aber merkwürdig, nämlich erstens, dass die ursprünglich beton­te Silbe, der udātta, nicht den höchsten Ton erhält, sondern nur den mittleren, und zweitens, dass auf diesem mittleren Ton ohne jeden Unterschied auch all­fällige weitere unbetonte Silben nach einem svarita gesungen werden[25]. In dieser Hinsicht machen einige der früher üblichen Notations- und Rezitations­systeme einen authentischeren Eindruck. Aber eine solche Rezitationsweise mit drei Tönen ist ja ohnehin, wie gesagt, nicht nur keine Fortsetzung der ursprüng­lichen Musik der Sänger, sondern sie ist auch keine natürliche Sprechrezitation. Wie immer sie entstanden ist, wir soll­ten sie heute eher als eine Art Code be­zeichnen. Sie hat sich aber bestens bewährt, gibt sie doch jedem Hymnus, jeder Strophe, jedem Vers eine individuelle Melodie, was auch beim Memorie­ren des Textes hilft. Und der dreitönig-eintönige Charakter fördert schliesslich ohne Zweifel auch die bewundernswerte Konzentration, individuell und in Gruppen, die die Brah­manen beim Auswendiglernen und Rezitieren der abertausend Verse aufbringen müssen.

Auch in den guten Devanāgarī-Textausgaben sind die Tonhöhen sichtbar ge­macht, in den alten Handschriften oft mit roter Farbe: Eine Silbe, die auf dem tiefen Ton gesun­gen wird, wird mit einem waagrechten Strichlein unterhalb markiert, eine Silbe, die auf dem hohen Ton gesungen wird, mit einem senk­rechten Strichlein oberhalb, und eine auf dem mittleren Ton gesungene Silbe, egal ob ursprünglich betont oder unbetont, bleibt unmarkiert.

Das alles lässt sich gleich an der ersten Zeile unseres kleinen Hymnus bequem zeigen. Wir können sie auf zwei Arten transkribieren:

1)    jātávedase sunavāma sómam
2)    jā̠tave’dase sunavām soma’m

«Dem Jātávedas wollen wir Soma pressen!»

Die erste Schreibweise imitiert die griechische Akzentnotation. Sie bringt die ur­sprüngliche vedische udātta-Betonung direkt mit einem Akut auf der betref­fenden Silbe zum Ausdruck. Die zweite Schreibweise imitiert die indische Nota­tion und zeigt uns auf praktische Weise, auf welchem Ton wir jede Silbe in der Rezitation singen müssen.

Das Wort sunavāma ist übrigens, wie Sie sehen, vollständig unbetont. Es ist das Ver­bum «wir wollen pressen» (1. Pers. pl. Konj. Präs.) und somit ein klassischer Fall von Wackernagels Enklisengesetz mit dem Hauptsatzverbum in unbetonter Zweitstel­lung!

Hier ist der ganze Hymnus in beiden Schreibweisen:

1) jātávedase sunavāma sómam   arātīyató ní dahāti védaḥ /
2) jā̠tave’dase sunavām soma’m arātīyto ni da’hāti̠ veda’ḥ /

1) sá naḥ parṣad áti durgā́ṇi víśvā        nāvéva síndhum duritā́ti agníḥ //
2) sa na’ḥ parṣd ati‘ du̠rgāṇi̠ viśvā‘      nā̠veva̠ sindhu’m duri̠tāti a̠gniḥ //

Die zweite kann auch uns beim Lernen der traditionellen Rezitation helfen. Ich habe die Probe aufs Exempel gemacht.

Da nun aber dank der Drei-Ton-Melodie die Akzentuierung des Hymnus in vedi­scher Zeit feststeht, können wir auch hier, genau wie bei den lateinischen und griechischen Gedichten, eine prosodische Sprechrezitation zu rekonstruieren versuchen. Dazu müssen wir erstens den in der indischen Rezitation bewahrten Rhythmus beachten und zweitens die wiedergewon­nene Akzentuierung – samt Enklisen – zum Ausdruck bringen. Auch in der indischen Vers­lehre gibt es im übrigen keinerlei Hinweis auf einen Intensitätsiktus, auch nicht in den regel­mässiger gebauten Versmassen wie der Gāyatrī (s. Anm. 11). Eine solche Sprech­rezitation könnte dann etwa so klingen:

jātávedase sunavāma sómam
arātīyató ní dahāti védaḥ /
sá naḥ parṣad áti durgā́ṇi víśvā
nāvéva síndhum duritā́ti agníḥ //

Anzumerken ist schliesslich noch, dass auch ein paar frühe Prosatexte, die noch in vedischer Sprache verfasst sind, vor allem zwei Brāhmaṇas zum Yajurveda, nach dem Drei-Ton-Prinzip rezitiert werden. Auch für sie hat man die ursprüng­liche Akzentuie­rung offenbar konservieren wollen, und so ist sie erhalten geblie­ben. Auch davon fin­den Sie auf Youtube Aufnahmen, z.B. vom Taittirīyabrāh­maṇa.[26] Und besonders wichtig ist mir hier zu betonen, dass auch diese Prosatexte – genau wie die Gedichte – rhythmisch gesprochen werden und dass Sandhi und damit auch die vedische Hiattil­gung strikte beachtet werden. Prosavedisch und Poesie­vedisch klingen gleich und taten das zweifellos schon in der Antike.

Wenn dieser Gleichklang von Prosa und Poesie aber für das Italienische gilt und für seine Tante Sanskrit schon immer gegolten hat, so besteht wirklich kein ver­nünftiger Grund, sie der Mutter Latein und ihrer Schwester Griechisch abzuspre­chen.

Kurz zusammengefasst lautet somit mein Rezept für die prosodische Rezitation der Alten Sprachen so: In Poesie verzichten wir auf unseren modernen Intensi­tätsiktus, in Prosa beachten wir – genau wie in Poesie – den Rhythmus und die Hiattilgung, und in beiden Textgattungen geben wir den Wortakzent nur noch den Focus-Wörtern, und zwar bevorzugt durch Stimmhebung.

Also – in Prosa:

  –   ⏑  –     –   –    –  –    –   –   –     –        –     –     –   ⏑   –     –    –    ⏑ ⏑ 
Gallia ’st omnis dīvīs’ in partēs trēs, quār’ ūn’ incolunt Belgae,_ali’

 ⏑   ⏑ –  –  –  ⏑  –       –    –   –    –     –     –    –     –     –     –     –    –    –    –
Aquitānī, tertiam, qu’ ipsōrum linguā Celtae, nostrā Galli̯ appellantur.

Und in Poesie:

´Arma virúmque canō, Trṓiae qui prī́mus ab ōrīs /
Ītáliam, fā́tō prófugus, Lāvī́ni̯aque vēnit / lītora.

Im übrigen lautet die Devise: Gut vorbereiten, üben, und am Ende so tun, als sei alles frei gesprochen![27]

* * * * * * *

Und hier zur Entschädigung für den Ausfall des mündlichen Vortrags (samt Suppe und Glühwein) noch drei Schmankerl, eine Phaedrusfabel (die in der heutigen Zeit säbel­rasselnder autokratischer Unrechtregime wieder einmal hochaktuell ist), ein Catull­gedicht und eine von Cicero meisterhaft erzählte Anekdote, der die Wirkung auch seinerzeit bei den Richtern offenbar nicht versagt blieb:

Phaedrus fab. 1.1

Ad rī́vum͜ eúndem lúpus et ágnus vēnerant Zum selben Bach waren Wolf und Lamm gekommen,
sítī compúlsī; supérior stābat lúpus,vom Durst zusammengetrieben; oben stand der Wolf, 
longḗque͜ inferior agnus. Túnc fáuce͜ ímprobāweit unterhalb das Lamm. Da brachte, von seinem gierigen Maul
lātro͜ incitātus iū́rgiī causam͜ intulit: angetrieben, der Räuber einen Grund zum Streit auf:
«Cū́r», inquit, «turbuléntam fēcistī mihi«Warum», sagte er, «hast du mir das Wasser trüb gemacht,
aquam bibéntī?» Lā́niger contrā tímens: wenn ich trinken will?» Darauf das Wollknäuelchen voller Furcht:
«Quī́ póssum, quaesō, fácere, quod quéreris, lupe? «Wie kann ich denn, bitte, tun, worüber du dich beklagst, Wolf?
Ā tḗ dēcurrit ad méōs haustūs liquor.»Von dir her fliesst das Nass zu meinen Schlücken herab.»
Repúlsus ille vēritā́tis vī́ribus: Zurückgeschlagen von der Macht der Wahrheit sagte jener:
«Ante͜ hṓs séx ménsēs mále͜», ait, «dīxístī mihi.» «Vor sechs Monaten hast du mich beschimpft.»
Respóndit ágnus: «Équidem nā́tus nōn eram.»Antwortete das Lamm: «Da war ich ja noch gar nicht auf der Welt.»
«Páter hercle tuus», ille͜ inquit, «male dīxit mihi.»«Zum Kuckuck, dann hat halt Dein Vater mich beschimpft.»
Atque͜ íta corréptum lácerat iniū́stā néce. Und so packte und zerfleischte er es in ungerechtem Mord.
Háec propter íllōs scrīpta͜ est hominēs fābula, Diese Fabel ist wegen jener Menschen geschrieben,
qui fíctīs cáusīs innocéntēs opprimunt.die aus erfundenen Gründen Unschul­digen Gewalt antun.

Catull carm. 3

Lugéte, o Véneres Cupidinésque,Trauert, oh Venus und Amor,
et quántum est hóminum venustiórum!und alle schönen Menschen!
Pásser mortuus est meae puellae,Der Spatz meines Mädchens ist tot,
pásser, delíciae meae puellae,der Spatz, Liebling meines Mädchens,
quem plús illa óculis súis amábat.den sie mehr als ihre Augen liebte.
Nam mellítus erat suámque noratEr war auch wirklich süss und kannte seine
ípsam tám béne quam puélla mátrem,Herrin so gut wie ein Mädchen seine Mutter,
néc sese a grémio illius movébat,und er bewegte sich nie von ihrem Schosse weg,
sed circumsíliens modo huc modo illucsondern hüpfte darauf herum, mal hier­hin, mal dorthin,
ad sólam dóminam úsque pipiabat.und piepste immerfort nur seine Herrin an.
Qui nunc it per íter tenebricósumNun geht er den dunklen Weg
ílluc, unde négant redire quémquam.dorthin, von wo, wie man sagt, keiner zurückkommt.
At vóbis mále sit, malae tenebraeSchande über Euch, ihr bösen Schatten
Orci, quae ómnia bélla devorátis:des Orcus, die ihr alles Schöne verschlingt:
Tám béllum mihi pásserem abstulistis!Einen so hübschen Spatz habt ihr mir weggenommen!
´O fáctum mále! ´O misélle pásser!Oh, welche Untat! Oh, armes Spätz­chen!
Túa nunc ópera meae puellaeDeinetwegen sind nun meines Mäd­chens
fléndo turgíduli rubent océlli.Augen vom Weinen ganz rot und ge­schwollen.

Cicero, pro Sexto Roscio Amerino 64f.[28]

1. rhythmisch:

2. freier:

Nṓn íta múltīs ánte͜ ánnīs āiunt T. Cáelium quendam Tarracīnḗnsem, hóminem nṓn obscū́rum, cum cēnā́­tus cúbitum͜ in ídem conclā́ve cum duṓbus adulēscén­tibus fī́liīs ī́sset, invéntum͜ esse mā́nē iugulā́tum. Cum neque sérvus quísquam reperīrḗtur neque lī́ber ad quem͜ ea suspīciō pertinēret, íd aetā́tis autem dúo fī́liī própter cubántēs nē sēnsísse quidem sē dīcerent,  nmina fīlirum dē parricī́diō dēlāta sunt. Quíd poterat tám͜ esse suspīciṓsum? Neutrúmne sēnsísse? Áusum͜ autem͜ esse quemquam se͜ in íd conclā́ve com­míttere͜ éō potissimum témpore, cum͜ ibī́dem͜ essent dúo͜ adulēscéntēs fī́liī qui͜ et sentī́re͜ et dēféndere fácile póssent? Érat porrō nmo͜ in quem͜ ea suspīciō convenī́ret. Támen, cum plā́num iūdícibus esset fáctum apérto͜ ṓstiō dormiéntīs eōs repertōs esse, iūdício͜ absolū́ti͜ adulēscentēs et suspīcine͜ ómnī līberā́tī sunt. Nḗmo͜ enim putābat quémquam͜ esse quī, cum͜ ómnia dīvī́na͜ atque͜ hūmā́na iū́ra scélere nefā́riō polluísset, sómnum státim cápere potuísset, proptéreā quod, quī tántum fácinus commīsḗrunt, nn modo[29] sine cū́rā quiscere sed nē spīrā́re qui­dem sine métū póssunt. Vor gar nicht so vielen Jahren, wird be­richtet, sei ein gewisser Titus Caelius von Tarracina, ein nicht ganz unbe­kannter Mann, nachdem er nach dem Abendessen mit seinen zwei heran­wachsenden Söhnen in ein und das­selbe Schlafgemach gegangen war, am andern Morgen mit durchschnittener Kehle aufgefunden worden. Als sich weder ein Skla­ve noch ein Freier fand, auf den der Verdacht hätte fallen kön­nen, zwei Söhne in diesem Alter aber, die gleich daneben geruht hatten, behaup­teten, nichts gemerkt zu haben, wurden die Söhne wegen Vatermordes ange­klagt. Was hätte verdächtiger sein kön­nen? Keiner von beiden sollte etwas gemerkt haben? Hingegen sollte irgendeiner gewagt ha­ben, in jenes Schlafgemach einzudringen just zu einer Zeit, als sich ebendort zwei fast erwachsene Söhne aufhielten, die ihn leicht hätten bemerken und abwehren können? Es gab auch weiterhin nieman­den, auf den ein solcher Verdacht ge­passt hätte. Dennoch wurden die Söh­ne, nachdem den Richtern klar gemacht worden war, dass die beiden bei offener Haustür schlafend vorgefunden worden waren, durch das Urteil freigesprochen und von jedem Verdacht entlastet. Nie­mand hielt es nämlich für möglich, dass es jemanden geben könnte, der, nach­dem er jegliches göttliche und mensch­liche Recht durch ein ruchloses Ver­brechen besudelt hatte, sogleich hätte in Schlaf verfallen können. Denn die, die eine solche Tat begangen haben, kön­nen nicht nur nicht ohne Sorge ruhen, sondern nicht einmal mehr ohne Angst atmen.

Vielen Dank fürs Interesse beim Lesen und Hören,
bleiben Sie gesund, und frohe Festtage!

Fussnoten:


[1] N.b.: Es geht mir in diesem Beitrag um Silben, Wörter, Akzente und Satzmelodie, hingegen nicht um die genaue Aussprache der Laute. In der jahrhundertelangen Geschichte des Lateins und des Altgriechischen haben sich viele von diesen so stark verändert, dass wir für keinen Ort und Zeitpunkt hoffen dürfen, den jeweiligen Gesamtbestand einigermassen kohärent und richtig bestimmen zu können. Wann, wie schnell und über welche Zwischenstufen z.B. <φ> in jedem der altgriechischen Dialekte von [ph] zu [f] geworden ist, können wir un­möglich präzisieren. Zudem waren in Städten mit grosser Zuwanderung, wie z.B. Rom zur Zeit Ciceros und Caesars, ohne Zweifel zur gleichen Zeit verschiedene Aussprachen zu hören, etwa älterer Diphthong [ae] und jüngerer Monophthong [ɛː] für geschriebenes <ae>. Auch die überlieferte Aussprache der vedischen Laute ist teilweise etwas jünger als die Entstehungszeit der Hymnen.

[2] S. unten Anm. 6.

[3] Aus der Mahānārāyaṇa-Upaniṣad, 2.1–7.

[4] Max Müller, ein Deutscher aus Dessau, war der erste Oxforder Professor für Indogermanistik (Comparative Philology). Er war der Sohn des jung verstorbenen Dichters Wilhelm Müller. Dieser wurde wegen seiner Grie­chenlandbegeisterung kurz «Griechenmüller» genannt und ist heute wohl vor allem noch bekannt als Autor des Liedes «Das Wandern ist des Müllers Lust» und des Liederzyklus «Die schöne Müllerin», den Schubert so wun­derbar vertont hat.

[5] Bei den Nambudiri-Brahmanen im Bundesstaat Kerala wird noch eine deutlich andersartige Rezitationsweise gepflegt. Den hier rezitierenden Mann habe ich durch Zufall in einer Filmdokumentation wiedergefunden, wo er als Lehrer fungiert: https://youtu.be/ruuPbvViOe4.

[6] Ob die Leute in dieser durchschnittlichen Rezitation verstehen, was sie singen, scheint mir fraglich: Die falsche Worttrennung soma marātīyato, die Zusammenschreibungen nidahāti und parṣadati und der in der Transkription als Doppelpunkt geschriebene Konsonant (sog. Visarga) machen jedenfalls keinen sehr kompetenten Eindruck. Das eigentliche Problem liegt viel tiefer. Man liest immer wieder, vor lauter Anstrengung, die korrekte Ausspra­che der Texte zu bewahren, sei im Laufe der fast drei Jahrtausende die ursprüngliche Bedeutung der Veden weit­gehend in Vergessenheit geraten. Auch heute wird diese in Indien vernachlässigt. Die Hilfe, die die westliche Indogermanistik und Indologie hier seit gut 200 Jahren bieten könnte, wird nur von wenigen hinduistischen Ge­lehrten (offen) willkommen geheissen. (S. oben bei Anm. 2.) Dies ist heute gewiss zum Teil aus der Kolonialis­musproblematik heraus zu verstehen. Viel wichtiger aber ist, dass diese ursprüngliche Bedeutung für die Hindus gar nicht von Belang ist; was zählt, ist die korrekte Rezitation und Durchführung der Opferhandlungen. Die Erosion des Wissens, was die vedischen Hymnen ursprünglich bedeutet hatten, ist zudem viel älter als jeder westliche Kolonialismus. Frits Staal schreibt dazu in seiner Monographie über die soeben erwähnte Nambudiri-Tradition (Agni: the Vedic ritual of the fire altar, Berkeley 1983, 30f.): «The reciters are (…) not Vedic scholars. They are dedicated to the preservation of their sacred heritage for posterity. Without them, scholars of the Vedas would have nothing to be scholars of. Had the reciters themselves been scholars concerned with meaning, the original sounds might have long been lost.»

[7] De bello Gallico 6.13.11–14.4.

[8] Paulus ex Festo 31.13 L: Bardus Gallice cantor appellatur, qui virorum fortium laudes canit.

[9] «Die neueren Arbeiten zur indogermanischen Metrik», ZVS (= KZ) 52, 1924, 161–93, spez. 166.

[10] Auf deutsch leicht greifbar in: Rüdiger Schmitt (Hg.), Indogermanische Dichtersprache (Wege der Forschung, Bd. 165), Darmstadt 1968, 40–48 (s. auch S. 87).

[11] Für die letzte Silbe eines Verses spielt es im Griechischen (und Latein) wie im Vedischen keine Rolle, ob sie auch kurz sein könnte, man gibt ihr die Dauer einer Länge. Im Vedischen werden allerdings in der heutigen Re­zitationsweise 2 × 11 Silben zu einem Langvers verbunden, was bei sómam arātīyató deutlich hörbar ist (s. auch den Worttrennungsfehler in Anm. 6!). Das ist aber eine Neuerung, denn die elfte Silbe, die kurz (mam a-) oder lang (víś) sein kann, war ursprünglich, wie bei Sappho, eine Versendsilbe, nicht anders als die zweiundzwan­zigste. Ähnliche Verbindungen von zwei Kurzversen zu einem Langvers können auch bei anderen vedischen Versmassen beobachtet werden, insbesondere bei der häufigen Gāyatrī (Achtsilbler, zweite Hälfte iambisch).

[12] Werner Suerbaum, Vergils Epos als Drama, Tübingen 2018, S. 450f.

[13] Ein konkretes Beispiel unten, Anm. 15.

[14] Auslautendes -m und anlautendes h- werden ignoriert, also nicht als vollwertige Konsonanten betrachtet.

[15] Hier einige Beispiele auf Youtube: Deutsch 1, 2 (besser); Niederländisch 3; Französisch 4; Italienisch 5, 6, 7, 8 (besser); Englisch 9a (ab Min. 1:00) und 9b (verschlimmbessert), 10, 11, 12 (verspricht mehr, als er in der Rezitation hält: ab Min. 1:17), 13 (ab Min. 1:00; besser), usw.

[16] Ähnliches Beispiel in Friedrich Crusius / Hans Rubenbauer, Römische Metrik, 5. Aufl., München 1960, 30 oben (§33): «werden (…) im Deutschen als Mangel empfunden».

[17] Paul Maas, Griechische Metrik, Leipzig/Berlin 1923 (mit Nachdr.), 21 (§80): «Die antike Rhythmik zeigt in Theorie und Praxis keine Spur von solcher Dynamik; sie ist rein quantitierend. Nun können wir uns, wenn auch nur mit großer Anstrengung, beim Sprechen fremder Sprachen von der Tyrannei dieser Dynamik befreien, z.B. beim Französischen.» Danach (s. §81) überwiegt auch bei Maas der Zweifel, ob wir ohne Hilfe von Hebung und Senkung den Rhythmus eines Verses spüren können. Aber warum sollten wir das nicht können, wenn es die Griechen konnten?

[18] Crusius/Rubenbauer (oben Anm. 16), 30 sind sich zwar der Verfehltheit der heute «gewöhnlichen» Rezitation durchaus bewusst, können sich aber von der deutschen Gewohnheit auch nicht lösen: «doch ist es zweifelhaft, ob ein reiner Dauerrhythmus ohne irgend eine Hervorhebung des starken Taktteiles möglich ist. Richtig ist, daß es nicht angängig ist (wie das gewöhnlich geschieht), lediglich nach dem Versiktus, d. h. also entsprechend den Quantitäten, zu betonen.» In der Folge stellen sie sich vor, es sei sowohl der Versiktus (durch Stimmstärke) als auch der Wortakzent (durch Stimmhöhe) realisiert worden. Das ist aber nicht nur realitätsfremd und akademisch, sondern auch unnötig. Auf die unregelmässigen Verse, wie den sapphischen Elfsibler und andere lyrische Vers­masse, ist dies ohnehin nicht anwendbar, da dort keine Hebungen definierbar sind. Auch deren Rhythmus muss aber erkennbar gewesen sein – und er ist es ja auch für uns ohne jede Schwierigkeit.

[19] Diese diente somit der Emphase, wie in allen Sprachen.

[20] «Über ein Gesetz der indogermanischen Wortstellung», IF 1, 1892, 333–436.

[21] Zum Vokativ hat schon Berthold Delbrück, Syntaktische Forschungen, V. Altindische Syntax, Halle a.S. 1888, 34f. alles Nötige gesagt: Er steht am Anfang und ist betont, wenn man Aufmerksamkeit erregen will; er steht enklitisch und ist unbetont, wenn dies nicht nötig ist und man ihn zum Beispiel als Höflichkeitsbezeugung ein­flicht. Auch Wackernagel (wie Anm. 20), 424f. weist auf Delbrück hin. In der griechischen Philologie und Sprachwissenschaft lassen wir uns von den byzantinischen Schulregeln mit ihrem Grundprinzip: «Kein Wort darf ohne eine Prosodía, d.h. Akzent oder Spiritus, geschrieben werden» bis heute über die wahren Betonungs­verhältnisse im Satz hinwegtäuschen. – Für den Odyssee-Anfang bedeutet das übrigens, dass die Gegenwart der Muse vom Dichter bei Beginn der Rezitation für gegeben erachtet wird. Dagegen ruft Sappho (s. oben) in ihrem Liebeskummer mit vielen Anfangsvokativen laut nach Aphrodite; erst πότνια ist dann ein Höflichkeitsvokativ.

[22] S. die jüngste Ausgabe des Bulletins des Schweizerischen Altphilologenverbandes, Nr. 98 (X 2021).

[23] Gewisse Sandhi-Regeln, die erst später wirksam geworden und nachträglich in die Rezitation hineingerutscht sind, macht die westliche Vedaforschung wieder rückgängig, vor allem die, die die Silbenzahl verändert haben.

[24] Jacob Wackernagel, Altindische Grammatik, I. Lautlehre, Göttingen 1896, 284 (§244): «Die Theoretiker sprechen immer nur von dessen Höhe, nie von dessen Stärke».

[25] Das ist schon Jacob Wackernagel aufgefallen, ibid. 285f.: «Dagegen hat in der gewöhnlichen Überlieferung des RV. (…) die sonst» (d.h. z.B. laut Pāṇini) «mit höchstem Ton gesprochene und deshalb auch von den Theo­retikern des RV. als udāttiert bezeichnete Silbe nur die mittlere Tonhöhe, dieselbe wie die auf den Svarita fol­genden ursprünglich tieftonigen Silben»; s. auch ibid. 290 (§249.b).

[26] Bei dieser Gruppenrezitation wurde der Text vermutlich abgelesen. Dennoch steht viel Übung dahinter. Prosa ist schwieriger chorisch zu sprechen, eben weil die Hilfe des sich wiederholenden Rhythmus von Versfüssen und Versen wegfällt.

[27] S. Quint. inst. 11.2.46f. über die vorgelagerte Stufe des Verfassens von Reden, für die dasselbe gilt.

[28] Ich habe diese Anekdote einmal detailliert sprachlich analysiert: «Cicero der Sprachkünstler, oder Plauderei über latei­nische Wortstellung», in A. Hornung, Ch. Jäkel und W. Schubert (Hg.), Studia Humanitatis ac Littera­rum Tri­folio Heidelbergensi dedicata. Festschrift für Eckhard Christmann, Wilfried Edelmaier und Rudolf Ket­temann (= Studien zur klassischen Philologie, 144), Frankfurt a/M etc. 2004, 359–75.

[29] Unlogisch – aber regulär – statt nōn modo nōn, s. Raphael Kühner und Carl Stegmann, Ausführliche Gram­matik der lateinischen Sprache, II. Satzlehre (2. Aufl., Hannover 1912, Nachdr.), 2, 62f. (Ziff. 14).